„Alle, die in den KZs arbeiteten, sind nicht ahnungslos in diese Situation gekommen“

18.01.2020
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Бывший советский пленный Петр Пальников при эксгумации расстрелянных советских пленных на кладбище Зеельхорст. http://waralbum.ru/114367/




Von Christiane Hoffmanns


Hermine Ryan (m) mit ihren Anwälten am 26.11.1975 im Düsseldorfer Majdanek-Prozeß: Die ehemalige SS-Aufseherin im Konzentrationslager Lublin-Majdanek, die vom Landgericht Düsseldorf wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden war, ist frei. Sie wurde am 21.4.1996 auf Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Dortmund auf den Tag genau nach Verbüßung von 20 Jahren zur Bewährung aus der Haft entlassen. Hermine Ryan war am 30.6.1981 als einzige von neun Angeklagten verurteilt worden. Das Gericht sah es damals als erwiesen an, daß die SS-Aufseherin zweimal durch die Selektion von Häftlingen zur Vergasung "aus egoistischem Interesse" eilfertig zum befohlenen Mord beigetragen habe. | Verwendung weltweit


Ehemalige SS-Aufseherin im Konzentrationslager Lublin-Majdanek: Hermine Ryan mit ihren Anwälten 1975. Quelle: picture-alliance / dpa


Karl-Heinz Keldungs hat die NS-Prozesse in seinem neuen Buch untersucht. Der Jurist wirft vielen damaligen Richtern vor, sie hätten sich nicht ausreichend mit den Straftaten der Aufseher auseinandergesetzt – ihm zufolge seien die Urteile zu milde gewesen.

Karl-Heinz Keldungs ist ein bisschen außer Atem. Nicht weil der ehemalige Richter mit dem Fahrrad zum Gespräch in die Redaktion gekommen ist, sondern weil er sofort engagiert über seine neusten Forschungen berichtet. Keldungs hat sich die Arbeit gemacht, die „NS-Prozesse 1945 bis 2015“ zu untersuchen. Das Buch des Düsseldorfers trägt den Untertitel „Eine Bilanz aus juristischer Sicht“.

Karl-Heinz Keldungs: Die meisten Bücher wurden von Historikern, Journalisten und Staatsanwälten geschrieben. Bislang hat sich, soweit erkennbar, kein Richter mit diesem Thema beschäftigt.

WELT: Worin liegt der Unterschied?

Keldungs: Historiker und Staatsanwälte sind immer Beobachter. Richter müssen den Sachverhalt verfolgen und Entscheidungen treffen. Die eigentliche Kunst des Richtens liegt darin, Geschichten zu hinterfragen. Sie müssen sich zudem mit dem Strafrahmen befassen und in Erwägung ziehen, welche Strafmilderungs- beziehungsweise Strafverschärfungsgründe es geben könnte. In meiner Untersuchung steht folglich nicht im Vordergrund, was in den Vernichtungslagern geschehen ist, sondern die Aburteilung der Verbrechen.

WELT: Auffallend an Ihrer Untersuchung ist: Viele Angeklagte, die hohe Positionen in Vernichtungslagern hatten, wurden nicht verurteilt. Zwischen 1945 und 1948 gab es insgesamt 109 Verfahren gegen 286 Personen. 37 Prozent der Angeklagten wurden freigesprochen.

Keldungs: Das hat mehrere Gründe. Zum einen konnten bestimmte Taten nicht nachgewiesen werden. Ein Beispiel sind die Todesmärsche. Als die Russen sich nach Deutschland vorkämpften, haben die Nationalsozialisten die Häftlinge kurz vor der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 gen Westen getrieben. Wenn diese geschwächten und ausgehungerten Menschen nicht mehr gehen konnten, wurden sie erschossen. Aber wer geschossen hat, das ließ sich kaum noch feststellen.

WELT: Erklärt das die vielen Freisprüche?

Keldungs: Nur zu einem Bruchteil. Die meisten Freisprüche lassen sich auf das Rechtsinstitut des Putativnotstands zurückführen. Das Gesetz sagt: Notstand ist, wenn man gezwungen ist, einen Menschen zu töten, um das eigene Leben zu retten. Entscheidend dabei ist: Man muss unverschuldet in die Situation kommen.

WELT: Und Putativnotstand?

Keldungs: Bei einem Putativnotstand nimmt die Person irrigerweise an, sie befände sich in einer Notstandssituation – ist es aber objektiv nicht. Mit Putativnotstand hat der normale Jurist so gut wie nie etwas zu tun. Aber in der Zeit der NS-Prozesse hatte dieses Rechtsinstitut eine Blütezeit. Die Angeklagten haben gesagt, sie wären getötet worden oder in ein Konzentrationslager gekommen, wenn sie die Juden nicht ermordet hätten.

WELT: Diese Meinung ist auch heute noch weit verbreitet.

Keldungs: Sie hält sich tatsächlich hartnäckig. Dabei hat die Forschung in den vergangenen 25 Jahren bewiesen, dass es eine Bestrafung nicht gegeben hat. Allerdings wusste man das in den 60er-Jahren noch nicht. Dennoch hätten die Richter kritischer urteilen müssen. Denn alle, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern arbeiteten, sind nicht ahnungslos und naiv in diese Situation gekommen. Die meisten waren Mitglieder der SS. Und jeder wusste, dass es sich bei der SS um eine Truppe handelte, die Staatsfeinde schonungslos verfolgte. Aber die SS war attraktiv. Als Eliteeinheit des Deutschen Reichs versprach eine Mitgliedschaft ein hohes Maß an gesellschaftlicher Anerkennung. Als ich die Urteile studiert habe, wurde mir klar, dass es schlicht keine Auseinandersetzung mit der Frage gab, ob die Angeklagten tatsächlich unverschuldet in die Situation gekommen sind. Und ob sie, hätten sie den Tötungsbefehl verweigert, das eigene Leben riskiert hätten.


Wegen Beihilfe zum gemeinschaftlich begangenen Mord an 86 Menschen hat ein Frankfurter Schwurgericht am 06.04.1971 den ehemaligen SS-Anthropologen Bruno Beger (59) aus Frankfurt zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt



Wegen Beihilfe zum gemeinschaftlich begangenen Mord an 86 Menschen hat ein Schwurgericht 1971 den ehemaligen SS-Anthropologen Bruno Beger zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt
Quelle: picture-alliance/ dpa

WELT: Wie kommen solch unreflektierte Urteile zustande? Lag es daran, dass viele Richter im Nachkriegsdeutschland keinen Abstand zum NS-Staat hatten?

Keldungs: Natürlich hat es viele Nazis unter den Nachkriegsrichtern gegeben. Aber das war nicht der einzige Grund. Es hatte auch mit der Stimmung in der Bundesrepublik zu tun. Die Nachkriegszeit war gekennzeichnet von einem lähmenden Geist. Viele Menschen wollten die Gräueltaten der Nazis nicht an sich heranlassen. Sie sahen immer noch die positiven Momente des NS-Staates. Von dieser Haltung waren auch die Richter nicht frei. Es gibt Verfahren, wie etwa das gegen sechs Angeklagte des Vernichtungslagers Sobibor am Landgericht Hamburg, bei denen alle wegen Putativnotstands freigesprochen wurden.

WELT: Wer wurde überhaupt angeklagt?

Keldungs: Am Anfang haben die Alliierten erst einmal die führenden Köpfe des NS-Regimes wie Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Baldur von Schirach oder Wilhelm Keitel angeklagt. In Polen und in der Sowjetunion hat es auch sehr bald Prozesse gegen Kommandanten von Konzentrationslagern gegeben. So wurde der Kommandant von Auschwitz 1946 in Auschwitz hingerichtet.

WELT: Warum konnten die alliierten Mächte die Prozesse führen?

Keldungs: Im Grunde waren sie nur zuständig für Straftaten, die gegen Angehörige ihrer eigenen Nationen oder der besetzten Nationen begangen wurden. Die Deutschen waren zuständig für Verfahren gegen Deutsche. Doch unter den Opfern der Nazis waren so gut wie immer Menschen aus den Ländern der Alliierten oder der besetzten Nationen. So haben beispielsweise die Amerikaner allein im Mauthausenprozess 61 Leute angeklagt und 58 zum Tode verurteilt.

WELT: Sie behaupten, es habe ein Versagen der deutschen Justiz bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen gegeben. Das ist eine schwere Anschuldigung.

Keldungs: Wenn man sich zum Beispiel mit dem Urteil im Sobibor-Prozess in Hagen beschäftigt, wird das deutlich. Wenn Sie das Urteil lesen, glauben Sie, Sie seien dabei gewesen. Die Taten wurden in allen Einzelheiten perfekt dargestellt. Aber als es hinterher um die Schuldfeststellung und die Strafzumessung ging, wird das Urteil vorsichtig und weich. Das Strafmaß wurde nicht ausgeschöpft. Generell liegen die Strafraten für Beihilfe zum Mord zwischen drei und 15 Jahren. Viele Täter haben jedoch nur Strafen aus dem unteren Strafrahmen erhalten.

WELT: Die Urteile waren also zu milde?

Keldungs: Auf jeden Fall. Es lag oft Beihilfe zu hundertfachem Mord vor. Als Richter, der selbst mit Tötungsdelikten befasst war, kann ich diese Entscheidungen nicht nachvollziehen. So wurde beispielsweise der Zahnarzt eines Konzentrationslagers angeklagt, den getöteten Juden die Zähne herausgerissen zu haben. Zu seiner Verteidigung hatte er behauptet, nur den SS-Leuten im Lager die Zähne gezogen zu haben. Er wurde freigesprochen. Solche Urteile gab es zuhauf. Die Richter haben gar nicht untersucht, ob diese Geschichte glaubhaft ist. Das wäre aber notwendig für die Urteilsfindung gewesen: Wenn ein Zahnarzt in einem Konzentrationslager tätig ist, ist es da nicht naheliegend, dass er auch den Ermordeten Zähne und Zahngold herausreißt? Der Bundesgerichtshof hat den Freispruch bestätigt.

WELT: Welche Bedeutung hatten die Prozesse für die Nachkriegsgesellschaft?

Keldungs: Sie waren enorm wichtig, weil man der Welt die Bereitschaft zeigte, zur Aufklärung der Gräueltaten beizutragen. Eine Verurteilung der Täter war man auch den Opfern schuldig. Daher finde ich es wichtig, auch heute noch Prozesse gegen NS-Täter zu führen, wie zurzeit am Landgericht Hamburg gegen Bruno D., den früheren Wachmann des Konzentrationslagers Stutthof.

Ehemaliger Richter in Duisburg und Düsseldorf

Karl-Heinz Keldungs wurde 1948 in Düsseldorf geboren. Er studierte Jura in Köln und Freiburg. Von 1979 bis 1991 war er Richter am Landgericht Duisburg, anschließend am Oberlandesgericht Düsseldorf (bis 2013). Keldungs forscht seit vielen Jahren über die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Auswahl seiner Publikationen: „Schicksale jüdischer Juristen in Duisburg 1933 bis 1945“ (Walter Braun Verlag), „NS-Prozesse 1945 bis 2015“ (Edition Virgines).

Bruno D. – Stutthof war „Ort des Grauens“   https://www.welt.de/politik/deutschland/video202284816/Prozess-gegen-Ex-SS-Wachmann-Bruno-D-Stutthof-war-Ort-des-Grauens.html

Der heute 93-jährige Bruno D. war SS-Wachmann im KZ Stutthof. Im Prozess gegen ihn hat er sein Migefühl für die Gefangenen in den Konzentrationslagern bekundet. Sein Einsatzort Stutthof bei Danzig sei ein „Ort des Grauens“ gewesen.


Quelle: WELT

Dieser Text ist aus WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gern regelmäßig nach Hause.

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